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Sélim Abou
Der kategorische Imperativ und die Menschenrechte
(Auszug)

(...)

Nach unserer Betrachtung der Menschenrechte wenden wir uns nun den Menschlichkeitsrechten, wie Kant sie nannte, zu. Anders gesagt, schreiten wir nun vom Individuum zum Bürger und von der Moral des Einzelnen zu der politischen Moral fort. Was das Individuum angeht, durfte es aus den drei Geboten des kategorischen Imperativs eine mentale Struktur als Basis für moralisches Verhalten entwickeln. Was die Nationen angeht: Es ist möglich und notwendig, dass jede Nation eine republikanische Verfassung annehmen soll, welche die juristische Freiheit der Bürger fördert: Eine "erstlich nach Prinzipien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen); zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertanen); und drittens, die nach dem Gesetz derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung." (1)

Die allerwichtigste Aufgabe der Menschheit besteht in der Etablierung, Sicherstellung und Entwicklung der Gesellschaft der Bürger. In einer Gesellschaft der Bürger darf die Freiheit des Einzelnen nie die Grenze der Freiheit der Anderen überschreiten. Menschen sind in dieser Gesellschaft frei, aber zugleich unterliegen sie dem Gesetz. Freiheit und Gesetzesmäßigkeit sollen eng miteinander verbunden sein. Nur eine republikanische Regierung darf als Regierung der Bürger gelten. Kant interessiert sich nicht so sehr für die Unterschiede zwischen Monarchie, Aristokratie und Demokratie; doch wichtig für ihn ist die Regierungsart, d.h. ob sie republikanisch, despotisch oder barbarisch ist: "Es ist aber an der Regierungsart dem Volk ohne alle Vergleichung mehr gelegen, als an der Staatsform."(2) Die Regierungsart soll genau der Konstitution entsprechen, und das ihr zugrundeliegende Prinzip besteht Kant zufolge darin, dass die dem Gesetz Unterworfenen gleichzeitig und gemeinsam Gesetzgeber sein müssten. Nach Kant ist dies das ewige Prinzip jeder Regierung der Bürger.

Die republikanische Regierung fußt auf der Trennung von legislativer, exekutiver und richterlicher Macht. Eine solche Regierung braucht ein repräsentatives System, sonst verfällt alles in Despotismus: "Alle Regierungsform nämlich, die nicht repräsentativ ist, ist eigentlich eine Unform, weil der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens (...) sein kann."(3) In der Bürgergesellschaft eines republikanischen Regierungsform fungiert die Regierung nach dem Rechtsprinzip, was zugleich als Gesellschaftsvertrag zum Wohle aller konzipiert wird.

Kant denkt in diesem Kontext über Gesetzesüberschreitungen (sowohl durch Regierungen als auch durch Bürger) nach, und beschreibt die Konsequenzen. Sowohl Despotismus wie auch Anarchie bedrohen die Existenz der Staatsgemeinschaft. Damit wird das Rechtsprinzip aufgehoben, und Kant bestätigt: "Für Staaten, im Verhältnisse untereinander, kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie, ebenso wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben (...)."(4)

Für Kant stellt der Krieg das allerschlimmste Unglück dar, und deshalb ist sein Denken oft auf die Umstände gerichtet, welche die Etablierung eines ewigen Friedens ermöglichen könnten. Ein solches Friedensabkommen könnte als regulierendes Prinzip fungieren, an welchem sich die Menschen sowohl politisch, als auch im privaten Leben orientieren sollten. Kant sagt, dass "die Vernunft (...) den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt (...) - so muß es einen Bund von besonderer Art geben, den man den Friedensbund nennen kann, der vom Friedensvertrag darin unterschieden sein würde, daß dieser bloß einen Krieg, jener aber alle Kriege auf immer zu endigen suchte."(5) Allerdings weiß Kant nicht, wie dies konkret umgesetzt werden soll. Mit Sicherheit kann man aber sagen, dass er sich ein föderales Bündnis der Staaten und keinen Weltstaat vorstellt, zumal ein Superstaat, wie die Geschichte bezeugt, noch eher als ein normaler Staat den Gefahren des Despotismus zu verfallen vermag und deshalb noch gefährlicher für den Frieden wird.

Der Weltfrieden kann also nur durch ein solches Bündnis gesichert werden, das alle freien Nationen in sich vereint und von einer Machtstruktur unterstützt wird, die für die Einhaltung von Gesetzen und Abkommen sorgt. Kant meint damit freilich nur jene Nationen, in welchen eine Gesellschaft von Bürgern von einem republikanischen und legalen Regime regiert wird. Einige internationale Instanzen, wie zum Beispiel der Internationale Gerichtshof, die UNO sowie ihr Vorgänger, das Bündnis der Nationen, beweisen uns also die visionären Gaben Kants, auch wenn sie nicht über jene Macht verfügen, die der Philosoph vorgesehen hatte.

Heute benutzen wir lieber das Wort Ethik, was zur Vernachlässigung der Moral führen kann. Ohne die zwei Worte zu definieren, will ich behaupten, dass es sich bei der Wahl des Wortes Ethik anstatt Moral um eine Wahl im Sinne des Praktischen handelt. Wir ziehen es vor, mit der Praxis und dem damit einhergehenden intersubjektiven Dialog anzufangen und somit die Motivation für ein Verhalten nach den Regeln der imperativen Moral zu messen, anstatt mit dem Imperativ anzufangen.Vom Imperativ ausgehen hieße riskieren, Regeln und Pflichten vorzuschreiben, die dem Subjekt von außen auferlegt werden.

Doch im Feld der Ethik können wir den kategorischen Imperativ nicht übergehen, obwohl wir ihn ablehnen können. Wenn wir ihn ablehnen, versäumen wir jedoch die Möglichkeit, die Theorie der Werte, welche wir schon in der Praxis herausgearbeitet haben, bewußt zu etablieren; wir versäumen die Möglichkeit sie zu verallgemeinern. Das haben die Philosophen gemeint, als sie die Ethik in der Vernunft gesucht haben, wie es sich im Diskurs und im Gewissen - aber nicht im Begehren - zeigt. Karl Appel und Jürgen Habermas einerseits sowie Hans Jonas und John Rawls andererseits zeigen sich also explizit mit der Kantschen Theorie einverstanden. Sie versuchen, diese den Bedürfnissen unserer modernen Gesellschaft anzupassen.

Nach den Worten einer Philosophiehistorikerin "eröffnet Kant auf bestimmte Art und Weise das Feld der zeitgenössischen Ethik. Die Vernunft zeigt, wozu sie in der Sphäre der Moral fähig ist, und entscheidet, was zu tun ist, unabhängig von jeglicher theoretischen Spekulation, unabhängig von jeglichem metaphysischen bzw. theoretischen Wissen (...) Die universalistische Formulierung Kants bleibt am Horizont zeitgenössischen Denkens (...) Kant ist also einer der wichtigsten ethischen Bezugspunkte unserer Zeit."(6)

 
1 Kant, Zum Ewigen Frieden, Leipzig o. J., S. 24
2 Ebd., S. 27
3 Ebd., S. 27
4 Ebd., S. 32
5 Ebd., S. 31
6 Jacqueline Russ, La Pensée éthique contemporaine, Paris 1994, S. 16

 
Sélim Abou
Der kategorische Imperativ und die Menschenrechte
(Auszug)


© Abou 2006


weltfragen im libanon

weltfragen im libanon
hg. von Andrea Schwarzkopf & Roland Kreuzer
Berlin 2006
Mit Beiträgen von Sélim Abou, Henry Cremona, Richard C. Dean, Roland Kreuzer, Fitnat Messaiké, Angelika Neuwirth, Doumit Salameh, Ridwan al-Sayyid, Andrea Schwarzkopf, Georges Zeynati.
Deutsch, englisch und arabisch, 80 Seiten, 50 Abb., 21 x 25 cm, Schutzgebühr & Versandkosten: 10 €

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