text Rolf Eichhorn
Einführung in die Unverständlichkeit
(Auszug)

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Kritik der Kunst der Fragen

Die Kantschen Fragen hier sind nicht einfach ein Übersetzungsproblem - sie sind zugleich damit ein Verständnisproblem - die gesuchte Lösung versucht die Kunst. Unser Problem der Unübersetzbarkeit können wir nur dann lösen, wenn wir die formale Problematik des Verstehens einer Übersetzung mit ihrem Inhalt, ihrem Ziel, mit ihrem Sinn beantworten. Denn die Fragen selbst sind in ihren Fragen gefangen: Was für Antworten auf diese Fragen können wir wissen? was sollten wir aus ihnen heraus tun? was dürfen wir uns von ihnen erhoffen? was sagen die Fragen und Antworten über unser Wesen?

Zudem kommen uns auch Bedenken hinsichtlich der Wirklichkeit oder Relevanz solcher Fragen: Gibt es diese (gibt es überhaupt) Fragen, wo die Welt "gesund" ist? Stellen sie sich, wo die Welt einfach anders ist? Schert es sie, wo die Welt in Not ist? Zu recht wohl nicht. Wir wissen nun also, daß diese Fragen nicht überall hinreichen und nicht alle Probleme lösen. Was aber können dann diese Fragen uns gegenüber wollen? Vielleicht kann irgend etwas an diesen Fragen doch versuchen einen Ansatz anzureißen, darf es irgend etwas in uns öffnen, um die Frage lösen zu helfen, was können, was sollten wir tun.

Denn Tag für Tag verhalten wir uns gerade so auf diesem Planeten, schaffen unbedachte, unkalkulierbare Realitäten, als wüßten wir die Antwort auf diese Fragen: Was wir sind, was wir wissen können, was wir tun. So sind wir lediglich Hochstapler, auf deren sicheren Fall man getrost warten kann. Aber selbst wer redlich sucht, findet keine "gegebene" Lösung auf die Fragen (weshalb die Unredlichen nicht auffallen). Vielleicht finden wir aber auch reflektiv zu Variationen dieser Fragen, die uns eine Lösung anbieten: was darf uns erlaubt sein, was ist geboten zu tun.
Denn womöglich geht es in den Fragen nicht um eine Geistige, sondern um eine seelische Größe.

Mögen wir so also drei dieser Fragen nicht beantworten können, so scheint eine schon eher anderer Natur zu sein, die Frage: was darf ich hoffen? Sie ist die freieste unter ihnen. Schauen wir, ob uns über die Kunst (und Natur) ein tieferes, ein sinnlicheres Begreifen gelingt. In ihr "versteht" unsere Sinnlichkeit, der zu glauben in uns tiefer dringt als unsere Rationalitäten.

Auch wenn wir hier die großen menschlichen Fragen nicht beantworten können, vielleicht können sie uns dennoch auf unser unbekanntes Ziel geleiten oder sogar uns ihm zuführen. So beantworten wir unsere Frage nach der Verstehbarkeit der Übersetzungen mit Hoffnungen, denen wir in unserem Tun folgen könnten, wenn wir wollten. Die Zielsetzung und was wir daraus machen, wird uns sagen: Was wir sind.

Was also dürfen wir uns von diesen in einem Kunstprojekt aufgeworfenen Fragen erhoffen?  
 

Der Ort des Versuches

Und wo kann in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ein Ort sein, an dem die Seele Platz fände? In einigen schnellen Platitüden läßt sich feststellen: Die Politik sucht nach Macht, die Wirtschaft nach Profit, alle Wissenschaften, auch die Geisteswissenschaft sucht nach Sachlichkeit - Der Mensch aber sucht nach Menschlichkeit, nicht nach Feststellung und einem bloßen Konstatieren, dessen was ist - nein, verlangt ist eine innere Ausrichtung aus aller vagen Hoffnung heraus, ein Wollen, das uns allein das Menschliche bietet und die Kunst - denn sie verbindet uns zumindest urtümlich alle miteinander auf der Ebene einer Intimität mit allen Dingen des Seins (auch den Mitmenschen), wie sie in kaum einem öffentlichen "Fach" der heutigen Welt erlaubt ist, da es das Mystische berührt.

Der Kunst-Ansatz dieser Sätze mag vergeistigt erscheinen, er greift aber mit dem Versuch einer Fundamentalität und innersten Menschlichkeit zurück auf das Anliegen einer das "DaSein" behandelnden und befragenden Kunst, wie wir sie z.B. auch in den Höhlen von Lascaux oder Chauvet wiederfinden und in aller Kunst. Und sie greift hinaus in eine Hoffnung.

Vielleicht - und um mehr geht es nicht - finden wir etwas wieder, vielleicht ein Rest Menschliches in einem Gefüge, das in seiner alltäglichen interessengesteuerten Betriebsamkeit eigentlich nicht danach fragt. Die Lösung, die die Kunst hier anbietet, auch das Problem unseres Nicht-Wissen zu umgehen, besteht im Aufgreifen der Fragen und nicht möglicher (kategorischer) Antworten oder Aussagen. Es ist die Grundsätzlichkeit der Fragen, die uns hoffen läßt, sie für alle wiedererkennbar, begreifbar aufscheinen zu lassen, um uns irgendwie - und gleichgültig wie - in irgend etwas dieser Sätze wiedererkennen zu können, selbst oder gerade wenn wir sie unvollkommen oder ganz eigen verstehen.

Es ist der Versuch einer überkulturellen Kunst - und zugleich ein Aufruf zu ihr.

Und es ist die Seele die Schauerin der Kunst.  
 

Es ist die Kunst

die hier in großen Straßeninstallationen eine gemeinsame Sprache versuchen darf, weil sie keinen Interessen, keinen Selbstsüchten folgt. In einem solchen Werk sehen wir vielleicht den Versuch einer wahren Kommunikation legitimiert.

Doch auch so, wie wir den Vorrang der fundamentalen praktischen Notwendigkeiten zu akzeptieren haben, wo es bei Begriffen wie "Brot" oder "Wasser" womöglich nicht mehr darum gehen kann, ob die Begriffe und Dinge in der anderen Sprache die selben sind oder welche Idealität sie besitzen, gilt auch hierbei - es geht darum, das Notwendige so gut hinzubekommen, wie es geht: daß wir uns selbst und einander wiedererkennen und verstehen.

Vielleicht gelingt uns dieser Versuch der Bewußtwerdung nur in unserem "Sinne" und bleibt für andere unverständlich - aber sollen wir deshalb etwa nicht die Brücken probieren? Es ist der Versuch mögliche Fragen in uns aufkommen zu lassen, die eventuell alle Menschen in sich wiederfinden könnten. Ein Angebot, ob uns diese Fragen nicht doch vielleicht auf der ganzen Welt gemeinsam sein könnten. Eine Suche nach Gleichheit bei aller Verschiedenheit.

Mehr als der Versuch ist es eine Aufforderung an jeden, der diese Sätze auch nur in einem Ansatz erfährt, sich auf den Weg zueinander zu machen - indem wir einfach bei aller möglichen Unverständlichkeit der Übersetzung "über-setzen", uns aufeinander zubewegen: Denn in jedem Fall wird es jenen, die in unseren Städten diese großen Sätze in ihrer Sprache lesen werden, wie ein Willkommen sein, hier ihrer Sprache zu begegnen, denn es sagt zugleich, daß wir auf sie zukommen.

Es ist damit also eine Geste gegeben, nicht ausschließlich ein Inhalt. Diese Geste beinhaltet zugleich, daß wir uns in unseren tiefsten Unklarheiten den Fremden auch offenbaren, und zugeben, daß wir auf unseren Kern, unsere Kern- und Seinsfragen, auch keine Antworten wissen: Die 4 Fragen in den Sprachen dieser Welt sind die anderen Menschen fremder Länder offenbarte Darstellung unseres kulturellen Versuches, uns selbst als Menschen zu verstehen.

Ja, und gerade uns Deutschen, die wir Kants Sprache mehr oder weniger mächtig sind - gilt diese Arbeit, die uns entgegenleuchtet: im Anblick der 4 Fragen in Schriftzügen fremder Sprachen, dürfen wir verstehen, daß die anderen die selben Fragen in ihrer Sprache in sich tragen und damit jeder andere tief innen wie wir selbst ist. Über allem verbindet uns etwas - unser Mensch-Sein wie uns die Natur geschaffen hat. Die Suche nach dem Anderen liegt tief in unserer Urseele - Ist unsere größte menschliche Angst etwa nicht die, allein zu sein im unendlich großen Sein? Es ist die Suche nach Annäherung oder auch Befremden - denn es geht allein darum zu verstehen, daß es sich uns nötig macht, unsere Nähe zueinander anzuerkennen.

So fordern die Plakate uns in ihrem Gelb, der Farbe der Treue, genau zu der Treue zu unserem ersten urgründigsten Moment auf: einander menschlich zu werden. Und nicht zuletzt könnte es auch allgemein eine Aussicht für jegliches Untereinander, auch in unserer Sprachwelt sein: Ein Verstehen, daß der andere neben mir, der, der da gerade über die Straße geht, mir ganz ähnlich ist, meinesgleichen - Vielleicht reichte ich denen, die wie ich in dieses Dasein geworfen sind mit all den heimlichen Nöten, die wir alle haben, eine Hand, wie auch ich sie gerne gereicht bekäme.

Auf Gemeinsamkeit müssen wir immer hoffen.

 
 

Rolf Eichhorn
aus: Einführung in die Unverständlichkeit
(Auszug)
Beitrag zum weltfragen-Europabuch
Berlin 2001


© Eichhorn 2001



Europabuch

weltfragen-Europabuch
Die Übersetzungen der Kantschen Fragen in 46 europäische Sprachen.
Mit Beiträgen von Sabine Collmer, Rolf Eichhorn, Dimitri Konstantinidis, Ursula Panhans-Bühler, Ursula Rauch, Annegret Stopczyk. Deutsch/englisch, ca. 450 Seiten, 15 x 10,5 cm, EUR 5 (plus Versandkosten). Bestellung per mail  

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