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Andrea Schwarzkopf
Kant klärt auf

 

Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? und: Was ist der Mensch? formulierte der deutsche Philosoph Immanuel Kant um das Jahr 1800. Die vier Fragen gelten seither in der abendländischen Philosophie als Grundfrage des menschlichen Seins und stehen synonym für eine Zeit, die in Europa als Aufklärung bezeichnet wird.

Roland Kreuzer ließ diese Fragen in viele Sprachen übersetzen und entwickelte daraus das Projekt weltfragen. Nachdem Roland Kreuzer die weltfragen in verschiedene Städte Europas gebracht hatte, fand Ende 2001 ein Symposium in Berlin statt, auf dem Wissenschaftler verschiedener Disziplinen über die Fragen referierten. In Berlin erwies es sich, daß es nicht einfach ist, klare Antworten auf diese Fragen zu geben. Das war für uns ein Grund, über den Kulturkreis Europa hinauszugehen, um weitere, vielleicht andere Antworten zu finden.

Der Libanon war aus unserer Sicht, aus der Sicht Europas, über viele Jahrhunderte das Land einer offenen Gesellschaft, das Land der Phönizier, das Land von Gelehrten, die den Austausch von Waren und Wissen vorantrieben. In den langen Jahren des Bürgerkrieges hat sich dieses Bild verhüllt. Für Beirut und den Libanon hat sich eine ähnliche Situation wie für Berlin und Deutschland ergeben, die Stadt und somit das Land waren geteilt. Diese Zeiten gehören der Vergangenheit an, die Grenzen sind gefallen. Wir freuen uns über die Gastfreundschaft und das Interesse, welches uns und dem Projekt von libanesischer Seite entgegengebracht wird und ich möchte mich auch im Namen des Künstlers Roland Kreuzer herzlich dafür bedanken. Das Projekt weltfragen möchte einen Beitrag leisten, Wissen und Erkenntnis beider Länder auszutauschen. Die Länder des Nahen Ostens, wie wir sie aus europäischer Sicht bezeichnen, sind von einer tiefen Religiösität geprägt, in denen Werte klar definiert sind. Die Auseinandersetzung mit den Kantschen Fragen durch repräsentative Wissenschaftler wird diese Prägung spiegeln.

Immanuel Kant gab seiner Religiosität Ausdruck, indem er bekennt: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.

Jaques Derrida entwickelte den Begriff der différance, ein Kunstwort, das - vom französischen Wort différer ausgehend - zwei Bedeutungen hat. Zum einen beschreibt das Wort die Tätigkeit verzögern, oder etwas auf später verschieben, was ökonomisch Kalkül, Umweg, Austausch oder Repräsentation impliziert, zum anderen heißt es auch nicht identisch sein, aber auch erkennbar sein. Es ist somit Bruch und Verbindung zugleich.

Aristoteles hat in seinem Buch Über die Seele den Begriff der Harmonie als eine Art von Mischung von Gegensätzen definiert. Die Positionen der eingeladenen Referenten werden nicht identisch, aber bestimmt erkennbar sein. Ich hoffe, daß die heutige Veranstaltung als ein Experiment, als Mischung von Gegensätzen gelingt. Der deutsche Dichter Johann Wolfgang Goethe meinte: Es ist nicht immer nötig, daß das Wahre sich verkörpere; schon genug, wenn es geistig umherschwebt und Übereinstimmung bewirkt.

 
Andrea Schwarzkopf
Kant klärt auf


© Schwarzkopf 2006


weltfragen im libanon

weltfragen im libanon
hg. von Andrea Schwarzkopf & Roland Kreuzer
Berlin 2006
Mit Beiträgen von Sélim Abou, Henry Cremona, Richard C. Dean, Roland Kreuzer, Fitnat Messaiké, Angelika Neuwirth, Doumit Salameh, Ridwan al-Sayyid, Andrea Schwarzkopf, Georges Zeynati.
Deutsch, englisch und arabisch, 80 Seiten, 50 Abb., 21 x 25 cm, Schutzgebühr & Versandkosten: 10 €

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